Kaum ein Thema erzeugt derzeit so viel Resonanz wie künstliche Intelligenz. Zwischen Euphorie, Überforderung und Aktionismus wirkt der Diskurs vertraut – fast wie ein «déjà-vu». Wer sich erinnert: Schon die Einführung von Webseiten in den frühen 2000er-Jahren wurde mit Heilsversprechen überladen. Später folgten Social Media, Big Data und Blockchain – jede Technologie begleitet von Hype, Enttäuschung und einem oft schmerzhaft langsamen Übergang in den produktiven Alltag. KI reiht sich in dieses Muster ein. Der Gartner Hype Cycle beschreibt diesen Verlauf etwas so: Auf die Phase der überzogenen Erwartungen folgt das Tal der Ernüchterung – und genau dort befinden sich viele Unternehmen inzwischen. Erste Pilotprojekte wurden gestartet, doch die Umsetzung dauert oft länger als gedacht. Und vor allem: Es fällt schwer, klare Use Cases zu identifizieren, bei denen Effizienz und Qualität tatsächlich messbar steigen. Der Zeitpunkt für Orientierung ist also jetzt.

Die IT-Wertschöpfungskette
Um sich in das «Wesen von KI» in Unternehmen einzudenken, lohnt sich zunächst der Blick auf eine einfache, aber zentrale Logik: die vertikale Wertschöpfungskette der IT, bestehend aus vier Schichten – vom Interface bis zur Infrastruktur (siehe Abbildung 1).
1. Interaktionsdesign (GUI)
Auf der Ebene «ganz oben» findet die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine bzw. Software statt. Hier geht es um Abläufe (Journeys) und Benutzerfreundlichkeit (User Experience).
2. Intelligenz (AI und Software)
Auf diesem gedanklichen «Layer» liegt die Schicht der eigentlichen Intelligenz. Hier werden Funktionalitäten von Software und Fähigkeiten (von smart bis intelligent) definiert. Auf dieser Ebene arbeiten Modelle, Logiken und Agenten. Sie verarbeiten Eingaben, leiten Schlussfolgerungen ab, generieren Inhalte oder treffen Entscheidungen.
3. Daten (auf Servern)
Ein intelligenter Agent braucht eine Basis – sein Wissen. Dieses liegt in Datenbanken, Dateien oder in externen IT-Systemen. Qualität, Struktur und Aktualität dieser Daten entscheiden über die Aussagekraft und den Nutzen der KI-Anwendung.
4. Infrastruktur
(Server, Cloud, Netzwerk) In diesem Sinne «ganz unten» befindet sich das «Blech», worauf Server und Speichermedien und Netzwerke betrieben werden: die technische Grundlage. Server, Speicher, Netze, aber auch Cloud-Plattformen bilden eine (hoffentlich) stabile und skalierbare Infrastruktur.
Diese vier Schichten bilden zusammen die vertikale Wertschöpfungskette digitaler Systeme – und sie bilden zugleich die technische Grundlage für den Bau eine Digital Workforce. Wer verstanden hat, wie diese Ebenen zusammenspielen, kann im nächsten Schritt gezielt planen: Welche Rolle soll ein Agent übernehmen? Welche Daten braucht er? Wie greift er zu? Wie kommuniziert er mit Nutzern? Genau hier setzt der Digital Workforce Canvas an – als strukturierter Baukasten für den digitalen Mitarbeitenden.
Die Digital Workforce
Künstliche Intelligenz wird mehr und mehr als Bestandteil von Teams und Services gedacht – nicht als exotisches Werkzeug, sondern als digitale Arbeitskraft, Helferlein oder einfach als Ingredienz. So sind Google-Resultate, die Eingabe von Textnachrichten auf Whatsapp oder auch das Erstellen von Anzeigen auf ricardo.ch allesamt KI-unterstützt. Damit das gelingt, braucht es einen klaren Bauplan. Der Digital Workforce Canvas übersetzt diese Idee in neun zentrale Felder. Sie helfen, den digitalen Mitarbeiter gezielt zu entwerfen – funktional, sicher und sinnvoll eingebettet in die Organisation.
Das Funktionsdesign
Vor diesem Hintergrund lassen sich neun Felder eines Baukastens definieren, die Unternehmen helfen, die Anforderungen an eine KI zu konkretisieren. Und weil es sich im Grunde genommen um einen digitalen Mitarbeiter handelt, den es sozusagen zu rekrutieren gilt, beginnt
das Funktionsdesign mit einer digitalen «Stellenanzeige», also dem Anforderungsprofil.
Anforderungsprofil: Was soll der digitale Mitarbeitende leisten?
Wie bei jeder neuen Rolle beginnt alles mit einer Stellenbeschreibung. Der digitale Mitarbeitende braucht ein präzises Aufgabenprofil: Welche Funktionen übernimmt er – Beratung, Analyse, Moderation, Automatisierung? Welche Verantwortung trägt er? Und wie weit reicht seine Entscheidungskompetenz? Erst durch diese Klärung wird aus einem generischen System ein spezifisch einsetzbarer Agent, der einen spezifischen Use Case übernimmt.
Interaktionsdesign: Wie kommuniziert der Agent – mit wem, worüber, in welcher Form?
Digitale Mitarbeitende benötigen eine durchdachte Kommunikationslogik. Text, Sprache, Bild, Ton, gegebenenfalls Video oder sogar AR/VR – alles ist möglich, aber nicht alles ist sinnvoll. Geklärt werden muss: Über welche Kanäle interagiert der Agent? Mit welchen Nutzergruppen? Und in welcher Tonalität – formell, locker, empathisch, neutral? Die User Experience wird hier definiert, nicht im Nachhinein.
Fähigkeiten: Welche kognitiven und analytischen Kompetenzen braucht der Agent?
Die eigentliche Intelligenz des Systems zeigt sich in seinen Fähigkeiten. Dazu zählen Sprachverständnis, analytisches Denken, kontextbezogene Reaktion, kreative Generierung von Inhalten – etwa Texten, Empfehlungen oder Zusammenfassungen. Zentral ist auch die Frage nach der technischen Umsetzung: Welche Architektur steckt dahinter? Welche Modelle (Large Language Models, LLMs) und welche Funktionen im Sinne der Generierung (Generative KI) und Automatisierung (Agentic AI) kommen zum Einsatz? Nur wenn das geklärt ist, entsteht ein belastbares Fundament.
Daten: Auf welche Informationsquellen greift der digitale Mitarbeitende zu – und wann?
Kein Agent funktioniert ohne Wissen. Und Wissen ist nur verfügbar, wenn es zugänglich, aktuell und strukturiert ist. Hier geht es um interne und externe Datenquellen– von Produktinformationen über CRM-Daten bis hin zu Branchentrends oder regulatorischen Vorgaben. Entscheidend ist nicht nur, welche Datenquellen angebunden werden, sondern auch, wann sie im Prozess zur Verfügung stehen und in welcher formalen Qualität. Wissen muss zur richtigen Zeit am richtigen Ort und im richtigen Format bereitstehen.
Schnittstellen: Wie gelangen Daten und Signale zum Agenten – und wieder zurück?
Datenströme verlaufen nicht zufällig. APIs (Application Programming Interfaces), Webhooks, Middleware oder Integrationsplattformen sorgen für einen verlässlichen Informationsfluss. Wo Daten aus unterschiedlichen Töpfen kommen, müssen sie harmonisiert werden – strukturell, semantisch, logisch. Auch Rückkanäle sind relevant: Was passiert mit den Ergebnissen des Agenten? Werden sie dokumentiert, weiterverarbeitet, evaluiert?
Sicherheit und Governance: Wer darf was – und wie wird das kontrolliert?
Mit jeder digitalen Intelligenz wachsen auch die Anforderungen an Sicherheit. Wer darf auf sensible Daten zugreifen? Welche Rollen- und Rechtekonzepte sind notwendig? Wie wird Missbrauch verhindert, wie werden Sicherheitslücken geschlossen? Der digitale Mitarbeitende muss sich ausweisen können – technisch und organisatorisch. Zugleich braucht es klare Regeln, wie Ergebnisse protokolliert, geprüft oder auch hinterfragt werden dürfen.
Infrastruktur: Was braucht der digitale Mitarbeitende physisch und technisch?
Ein KI-Agent existiert nicht nur in der Cloud. Je nach Einsatzbereich braucht es physische Komponenten, um mit der Umwelt zu interagieren – etwa Kameras, Mikrofone, Bildschirme, Sensoren oder Wearables, die Stimme, Bild oder andere Signale erfassen und wiedergeben. Hinzu kommt die technische Grundlage für Verarbeitung und Kommunikation: Server, Netzwerke, Datenleitungen – lokal, in der Cloud oder hybrid. Dabei stellt sich die Frage: Wo wird die Rechenleistung gehostet? Wer kontrolliert den Zugriff? Und wie skalierbar ist die Infrastruktur, wenn die Nutzung steigt? Ein digitaler Mitarbeitender ist letztlich nur so leistungsfähig wie sein technisches Umfeld. Deshalb gilt: Wer ernsthaft auf KI-Agenten setzt, muss die physisch-technische Seite von Beginn an mitdenken – und nicht erst dann, wenn etwas nicht funktioniert.
Training und Lernen: Wie entwickelt sich der digitale Mitarbeitende weiter – und auf welcher Grundlage?
Ein digitaler Mitarbeitender wird nicht einmal eingerichtet und dann vergessen. Er lernt – oder er wird überholt. Entscheidend ist daher die Frage: Wie lernt er, auf welcher Datenbasis basiert sein Lernen und welche Mechanismen sorgen für Weiterentwicklung? Grundsätzlich stehen unterschiedliche Lernformen zur Verfügung, wie das Supervised Learning, bei dem der Agent mit klaren Beispielen trainiert wird, Unsupervised Learning, wenn er Muster eigenständig erkennt, Semi-supervised Learning – als Mischform mit begrenzter Anleitung, Reinforcement Learning, bei dem durch Rückmeldung (Belohnung/ Bestrafung) gelernt wird oder so genanntes «Transfer Learning», wobei bereits Gelerntes auf neue Aufgaben übertragen wird. Doch Lernen ist nicht nur technisch – es ist auch kulturell. Der Agent muss sich an Sprache, Stil und implizite Regeln des Unternehmens anpassen. Dazu braucht es Feedbackschleifen: strukturierte Rückmeldungen aus der Nutzung, etwa durch Nutzerevaluationen oder Ergebnisvergleiche.
Business-Anwendungen: Was bringt der digitale Mitarbeitende unterm Strich?
Die beste Architektur, das sauberste Training, die sichersten Schnittstellen – all das bleibt Theorie, wenn kein messbarer Mehrwert entsteht. Deshalb steht am Ende die Frage nach dem konkreten Nutzen: Was bringt der digitale Mitarbeitende dem Unternehmen? Hier geht es um zwei Ebenen: Zum einen um harte Kennzahlen – also Financial KPIs wie Kosteneinsparungen, Prozessbeschleunigung, zusätzlicher Umsatz oder Effizienzsteigerung. Zum anderen um weiche, nicht-finanzielle KPIs: Qualität der Interaktion, Nutzerzufriedenheit, Fehlerreduktion oder Innovationskraft. Diese Wirkung muss quantifizierbar und vergleichbar gemacht werden. Business Cases helfen, Investitionen zu rechtfertigen, Break-even-Analysen zeigen, wann sich der Einsatz lohnt. Und: Eine kontinuierliche Monitoring- und Kapazitätssteuerung stellt sicher, dass der digitale Mitarbeitende nicht überlastet wird – oder unbemerkt stillsteht. Die Frage «Was bringt’s?» ist nicht zynisch – sie ist notwendig. Denn nur dort, wo ein echter Beitrag zum Geschäft geleistet wird, ist der Einsatz künstlicher Intelligenz mehr als eine technische Fingerübung.

Quelle: KMU-Magazin Nr. 4/5, April/Mai 2025 (Dr. Andreas Lucco, Milan Jovanovic)
